ICQ und Schmuddelkram – meine ersten Schritte im Internet

Steffen Anton, 10.03.2024


Wohl kaum eine technische Neuerung hat das Leben der Menschen so eklatant und nachhaltig beeinflusst wie das Internet. Jeder Griff zum Smartphone, jede Nutzung eines Streamingdienstes wäre heute obsolet, würde es die weltweite Vernetzung von Computern nicht geben. Dabei ist das, was wir heute als „World Wide Web“ bezeichnen, gerade einmal gute dreißig Jahre jung und wurde in seinen Anfangstagen noch als vorübergehende Erscheinung belächelt.

Auch für mich und meinen bisherigen Werdegang hatte das Netz eine große Bedeutung. Schließlich bot es mir die Möglichkeit, die Früchte meiner Kreativität einer breiten Masse zugänglich zu machen. Daher möchte ich Euch an dieser Stelle von meinem Einstieg ins Netz und meiner ersten Online-Zeit berichten.

 

Im Oktober 1994 kam ich erstmals in den Besitz eines richtigen Computers. Es handelte sich hierbei um einen PC mit einem 486er Prozessor, später kamen noch eine Soundkarte sowie ein CD-ROM-Laufwerk hinzu. Ein bestimmtes Hardware-Teil fehlte jedoch, um zu dieser Zeit schon online zu gehen: ein Modem. Dieser kleine Kasten sorgte für den digitalen Datenaustausch, indem er zwischen Telefondose und Computer installiert wurde. Jedoch gingen meine Gedanken im Jahr 1994 noch nicht in diese Richtung. was unter anderem darin begründet lag, dass das Internet zu dieser Zeit noch als teure Nischenerscheinung betrachtet wurde.

 

Vier Jahre später sah das jedoch schon etwas anders aus. Ich hatte mein Abitur in der Tasche und steckte gerade mitten in meinem Zivildienst. Mein Rechner hatte mittlerweile einige Jahre auf dem Buckel und konnte so trotz zwischenzeitlich erfolgter Erweiterung des Arbeitsspeichers nicht mehr mit den aktuellen Anforderungen mithalten. Daher war es höchste Zeit für einen PC der nächsten Generation, um die neuesten 3D-Spiele in voller Pracht genießen zu können. Und noch etwas hatte mittlerweile den Mainstream erobert. Prominente Persönlichkeiten wie Manfred Krug und Boris Becker vermittelten in Werbespots die Botschaft, dass ein neues Zeitalter angebrochen war. Online-Dienste wie AOL oder Compuserve schienen plötzlich allgegenwärtig zu sein, und wer noch keine E-Mail verschickt hatte, galt ja wohl als völlig out. Daher war es mir so klar wie nur irgend etwas: Zusätzlich zum neuen Rechner musste auch ein Modem her.

 

Jedoch gab es hier noch ein kleines aber nicht unwesentliches Problem. Das Wort Flatrate schien damals noch in weiter Ferne, die Abrechnung erfolgte minütlich. Zudem konnte man vor der Einführung des ISDN-Standards nicht gleichzeitig telefonieren und online sein. Dennoch willigten meine Eltern ein und ich durfte mir das Modem anschaffen. Die Wahl fiel auf ein Modell des Herstellers U.S. Robotics mit der klangvollen Bezeichnung „Sportster Flash“, wobei das letztere Wort für dessen Tempo stehen sollte: Übertragungsraten von 56k versprachen einen Datenverkehr in Höchstgeschwindigkeit. Über den Anbieter T-Online wurde schließlich im Februar 1998 unser erster Zugang ins Internet freigeschaltet.

 

An meine erste Sitzung im Netz kann ich mich noch detailliert erinnern. Mein Freund Martin, welcher zu dieser Zeit selbst noch über keinen Internetzugang verfügte, kam mich besuchen. Und dann war es soweit: Das Modem wählte sich ein. Dieser Vorgang gehört zu denjenigen Dingen, deren Akustik sich für alle Zeiten in mein Gedächtnis eingebrannt haben. Nachdem die gewählte Nummernfolge zur Einwahl als Töne zu hören war, wie man es auch heute noch vom Tonwahlverfahren kennt, erfolgte eine Reihe von weiteren Geräuschen aus dem kleinen schwarzen Kasten, welche am ehesten als Pfeifen und Rauschen beschrieben werden können. Wer damals ebenfalls Zeit ein Modem besaß, der weiß, wovon ich spreche.

Eine handgeschriebene Liste mit den wichtigsten Internetseiten die ich damals angefertigt habe.
Eine handgeschriebene Liste mit den wichtigsten Internetseiten die ich damals angefertigt habe.

Dann aber war es endlich soweit. Der Browser meiner Wahl war der „Netscape Navigator“, und als wir das Programm starteten, erschien die leere Zeile am oberen Rand, ganz so wie ein unbeschriebenes Blatt, und schien auf unsere Eingabe zu warten. Wohin sollte es gehen? Was war nun die allererste Internetseite, die wir ansteuerten? Wir hatten uns vorab eine Liste der zu besuchenden Adressen erstellt. Dazu muss man wissen, dass die Anzahl der damals verfügbaren Webseiten wie auch der Umfang der dargebotenen Inhalte wesentlich geringer war, als dies heute der Fall ist. Meist waren die Auftritte sehr einfach aufgebaut, von eingebetteten Videos oder aufwändigen Animationen konnte noch lange keine Rede sein.

Wie dem auch sei, damals war gerade James Camerons „Titanic“ in den Kinos angelaufen. Und ob man es glaubt oder nicht, in unserer damaligen Nerd-Clique war dieser Film sehr angesagt, einige von uns waren hierfür sogar zweimal im Kino gewesen. Daher stand ganz oben auf unserer Liste der Eintrag www.titanicmovie.com. Außer ein paar hochauflösenden Bildern aus dem Film hatte die Seite zwar nicht viel zu bieten, wir waren aber dennoch begeistert.

In den folgenden Wochen begann ich das Internet schrittweise für mich zu erschließen. Eine meiner ersten Amtshandlungen galt der Einrichtung einer E-Mail-Adresse mit dem klangvollen Titel „Reason@t-online.de“. Wie es zu diesem kam, wird weiter unten im Text noch erklärt.
Einige Phänomene spielten bei meinen Erkundungen eine besondere Rolle und sollen deshalb nachfolgend kurz aufgegriffen werden.

PC Games Chat

Mein erster Chat! Und somit auch die erste Plattform, um andere User kennenzulernen. Ich war seinerzeit eifriger Leser des Magazins und so lag es nahe, sich hier als erstes umzusehen. Das Chatprogramm selbst war sehr rudimentär angelegt, außer den Nicknames der jeweiligen Teilnehmer war von diesen weiter nichts zu sehen. Die einzige visuelle Besonderheit war die Tatsache, dass Mitglieder der Redaktion des Magazins in roter Schrift angezeigt wurden. Diese wurden im Chat ehrfürchtig und fast wie Prominente behandelt. Die Unterhaltung wurde fortlaufend vor schlichtem weißen Hintergrund angezeigt. Das Ganze hatte den Charme einer Textverarbeitung oder einer Videotextseite. Aber dennoch, dass da am anderen Ende Menschen aus Fleisch und Blut saßen, war eine aufregende Angelegenheit. So lernte ich eine Vielzahl an Personen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Österreich oder sogar Schweden kennen. Auch die ersten kleinen Flirts waren auf diese Weise möglich: Oftmals freute man sich auf eine bestimmte Person, nur um dann enttäuscht festzustellen, dass diese gar nicht online war. Manche der damaligen Bekanntschaften überdauerten sogar bis ins heutige Zeitalter von Social Media.

Reason Club

Das Logo des "Reason Club Europe"
Das Logo des "Reason Club Europe"

Die „Reason“-Filme, die ich mit ein paar Freunden in meiner Freizeit gedreht hatte, waren damals eine wichtige Sache für mich. Daraus resultierte letztlich auch die entsprechende Verwendung des Filmtitels für meine E-Mail-Adresse. Im PC-Games-Chat wiederum nannte ich mich „Cutie“, so wie der Roboter, welcher in „Reason“ die Hauptrolle spielt. Und irgendwie hatte ich es dort geschafft, andere wildfremde Personen mit meiner Begeisterung für unsere Amateurfilmchen anzustecken. Eine eigene Homepage aus dem Baukasten von T-Online hatte ich mir mittlerweile ebenso bereits eingerichtet. Und das dominierende Thema der Seite war – "Reason". Das alles führte schließlich dazu, dass ich den „Reason Club“ gründete, der allerdings nichts anderes war als eine Art Chatterclub, garniert mit ein paar meiner Freunde aus dem echten Leben. Jedes Clubmitglied hatte auf der Webseite eine eigene Sektion mit Profilbild sowie einigen persönlichen Daten. In dieser Hinsicht waren wir Facebook also um einige Jahre voraus. Regelmäßig verschickte ich zudem an alle Mitglieder per Mail einen Newsletter. Zu einem Treffen aller Clubmitglieder kam es leider nie, obwohl die Pläne hierfür durchaus vorhanden waren.

ICQ

Wollte man Menschen über die Grenzen des Chats hinaus kennenlernen, so bot das Programm ICQ hierfür eine gute Möglichkeit. Einmal installiert, vergab es an jeden Nutzer eine individuelle Nummer und heftete sich unten an die Systemleiste. Hatte man die Nummer einer anderen Person, so konnte man diese adden und per Direktnachricht mit ihr kommunizieren, ein wenig so wie heutzutage bei WhatsApp. Man konnte aber auch, und das fand ich wesentlich spannender, mit bestimmten Suchkriterien einfach nach neuen Personen suchen. Auf diese Weise erhielt man die Möglichkeit, Menschen aus aller Welt kennenzulernen. Immer wenn eine Nachricht eintraf, ertönte ein charakteristisches „Oh Oh“. Diesen Sound werde ich wohl ebenfalls nie vergessen. Falls jemand unter Euch noch ICQ haben sollte: meine Nummer war 19657589. Es wäre interessant zu erfahren, ob mein Account noch existiert: Gebt mir hier gerne eine Rückmeldung.

Telefonrechnung

Wie ich bereits zuvor erwähnt hatte, war das Internet zur damaligen Zeit eine teure Angelegenheit. Obwohl ich jeweils nur eine halbe oder maximal eine Stunde am Stück im Netz verbrachte, begann unsere Telefonrechnung Monat für Monat weiter anzusteigen. Irgendwann war dann eine Grenze erreicht, die meine Eltern zu recht nicht mehr zu tragen bereit waren. Dies führte dazu, dass der Anschluss bei T-Online zumindest eine Zeit lang auf Eis gelegt wurde. Auch diese Erfahrung musste ich erst einmal machen. Heute ist so etwas sicherlich nur schwer vorstellbar.

 

Im Laufe der Jahre kamen noch weitere Elemente für mich hinzu, seien es nun Schmuddelseiten (jeder der ihren Besuch leugnet, ist ein Lügner!) oder das Phänomen MP3. Und irgendwann kamen dann YouTube, Facebook und Konsorten. Aber gerade die ersten Jahre im Netz, in denen dieses noch etwas roher und archaischer gestaltet war, aber dennoch eine gewisse Exklusivität besaß, stellten etwas ganz Besonderes für mich dar.