Als VHS nicht nur für Volkshochschule stand – Videotheken, ein Phänomen der 80er und 90er

Steffen Anton, 27.01.2024


Im thüringischen Niederorschel steht ein großes weißes Haus, das bei jedem Vorbeifahren nostalgische Gefühle in mir auslöst. Was es damit auf sich hat, könnt Ihr im nachfolgenden Text erfahren.

Für jemand wie mich, der seine Jugend in den 1990er-Jahren verbracht hat, gibt es viele Dinge, die das Leben in unterschiedlichem Maße prägten. Seien es nun Videospiele oder Comics, Serien oder Filme, mein Interesse und meine Leidenschaft für diese Themen wurden hauptsächlich in dieser Zeit geweckt. Einen nicht zu unterschätzenden Anteil daran hatten Videotheken. Im Zeitalter von Streamingdiensten ist es kaum mehr vorstellbar: Man suchte seinerzeit tatsächlich nach kaltem Zigarettenrauch duftende Läden auf, in denen gegen eine Gebühr Filme auf VHS-Kassetten ausgeliehen werden konnten. Diese mussten am nächsten Tag ordnungsgemäß zurückgespult wieder abgegeben werden.

Diesen Videorecorder von Crown besaß mein Bruder damals.
Diesen Videorecorder von Crown besaß mein Bruder damals.

Für mein zwölfjähriges Ich sah das in der Praxis folgendermaßen aus: Ich nervte meinen Vater samstagabends so lange, bis er mich in den Nachbarort chauffierte. Die dortige Videothek mit dem klangvollen Namen "Super Video" war das Ziel meiner Begierde und gewissermaßen mein Paradies. Denn da wir noch keine Satellitenantenne besaßen, war mir die Vielfalt des Privatfernsehens verwehrt. Nach einer halben Ewigkeit hatte ich mir einen oder zwei Filme ausgesucht und begab mich glücklich wieder nach Hause in das Zimmer meines Bruders. Er verfügte über einen Videorecorder, befand sich um diese Uhrzeit jedoch bereits auf dem Weg in eine Diskothek und war so nett, mich sein Wunderwerk der Technik nutzen zu lassen. Der Abend und somit auch das Wochenende waren für mich gerettet.

Meinen Videothekenausweis habe ich heute noch.
Meinen Videothekenausweis habe ich heute noch.

Viele Filme wie etwa „Ghostbusters“, „Police Academy“ oder "Superman" durfte ich so zum allerersten Mal erleben, und man kann durchaus sagen, dass dies meinen weiteren Lebensweg auf eine gewisse Weise beeinflusste. Daher möchte ich an dieser Stelle einmal über das Phänomen „Videotheken“, vor allem in den neuen Bundesländern, schreiben. Und was würde sich da mehr anbieten, als Informationen aus erster Hand? Umso dankbarer bin ich deshalb für die Bereitschaft der Inhaberin von „Super Video“ aus Niederorschel, mir hierzu einige Fragen zu beantworten.

"Super Video"

Extra für das Foto haben die Thünes das alte Schild noch einmal angebracht.
Extra für das Foto haben die Thünes das alte Schild noch einmal angebracht.

Ingrid Thüne hatte 1987 mit ihrem Mann ein Haus in Niederorschel bezogen, und wie bei vielen Menschen zur damaligen Zeit brachte die Wende zwei Jahre später nicht nur Gutes mit sich. Sie wurde arbeitslos und stand vor der Frage, was man mit dem großen Haus und der freien Zeit anfangen könne. Als nun die Grenzen nach Westdeutschland geöffnet wurden, schwappten nicht nur Coca Cola und Nutella zu uns herüber, sondern auch viele Phänomene, die bis dahin nur aus dem Fernsehen oder überhaupt nicht bekannt waren. Eines davon waren Videotheken, und diese fielen auch ins Blickfeld von Ingrid Thüne: „Mir war klar, dass ich irgend etwas machen wollte. Ein Geschäft eröffnen, oder etwas in der Richtung. Erst überlegten wir, eine Eisdiele oder Imbissbude zu machen. Aber dann wurde unsere Aufmerksamkeit durch zahlreiche Werbeanzeigen auf Videotheken gelenkt“, erinnert sie sich. Damals fuhr sogar ein Zug durch die Gebiete der ehemaligen DDR, der als eine Art fahrende Messe fungierte. Bestückt war er mit Info-Ständen von westdeutschen Videotheken, mit dem Ziel, hierfür auch Betreiber im Osten zu finden. Eine außergewöhnliche, aber doch sehr wirkungsvolle Art des Marketings: Dort entstand nämlich der Kontakt mit einem Videothekar aus Wiesbaden. Dann ging alles recht schnell: „Am 15. Dezember 1990 haben wir unseren Laden eröffnet. Anfangs noch mit geleasten Videos aus Wiesbaden. Wir sind einmal pro Monat hingefahren, um neues Material zu besorgen.“, so Thüne. Der Name „Super Video“ entstand auf Empfehlung aus Wiesbaden in Anlehnung an die dortige Kette. In den folgenden Monaten suchte sie sich noch einen zweiten Kooperationspartner in Erfurt, da Wiesbaden vom thüringischen Niederorschel ja doch immer ein gutes Stück zum fahren war. Zu den geleasten Kassetten kamen im Laufe der Zeit auch eigene hinzu, denn viele der direkt nach der Wende eröffneten Läden hatten mittlerweile wieder geschlossen, so dass man günstig deren Bestände aufkaufen konnte.

Und so kam es, dass sich "Super Video" zu einer festen Größe in der Region etablierte, obwohl eigentlich kaum Werbung gemacht wurde. „Es hat sich eben herum gesprochen“, erzählt Ingrid Thüne. In Spitzenzeiten hatte die Videothek circa 3.000 Filme im Bestand und konnte um die 2.500 Kunden zählen. Es gab auch eine Zusammenarbeit mit der vermeintlichen Konkurrenz; mit der Leinefelder Videothek herrschte gar ein reger Austausch, man fuhr gemeinsam auf Messen und gab sich Tipps im Umgang mit Kunden.

Zusatzangebote

Bis heute in meinem Besitz: der SEGA-Prospekt.
Bis heute in meinem Besitz: der SEGA-Prospekt.

Ein Fakt, der für die Leser dieses Artikels ebenfalls nicht uninteressant sein wird: „Super Video“ hatte von Anfang an auch Videospiele im Angebot. Genauer gesagt Spiele für SEGAs Mega Drive, sowie drei entsprechende Konsolen. Wie kam es hierzu? Dazu Ingrid Thüne: „Das kam auch über unseren Partner in Wiesbaden. Er gab uns die Geräte mit und meinte, das könnte man auch anbieten.“ Dieses Standbein lohnte sich jedoch nicht wirklich, da die Anschaffung der Spiele schlicht zu teuer war. Die im direkten Vergleich höheren Kosten waren auch der Grund, warum Produkte von SEGA und nicht die des Konkurrenten Nintendo angeboten wurden. Auch ich machte damals von diesem Angebot Gebrauch: Selbst nur im Besitz eines SEGA Master Systems, war ich froh, wenigstens für ein Wochenende dessen "großen Bruder" zu Hause bespielen zu dürfen. Einen Werbeprospekt für die Konsole, der auf dem Tresen zur Mitnahme ausgelegt war, habe ich bis heute in meinem Besitz.

Die Video Press.
Die Video Press.

Ein weiteres Printmedium war ebenfalls in der Videothek beheimatet: das Magazin „Video Press“. Für vergleichsweise günstige 1,90 DM erhielt man ein Heft, in welchem die neuesten Erscheinungen vorgestellt wurden. Ab und zu durfte ich mir eines mitnehmen. Die damals gekauften Ausgaben besitze ich zwar nicht mehr, vor einiger Zeit konnte ich jedoch drei Hefte im Internet finden und mir zulegen. Ein Blick ins Impressum zeigte mir, dass das Magazin vom „Deutschen Video Ring“ herausgegeben wurde, also gewissermaßen dem damaligen Dachverband der Videotheken. 

Der Niedergang

Gegen Ende der 1990er-Jahre kristallisierte sich der Wechsel von VHS-Kassetten zur DVD heraus. Immer mehr wurden die klobigen Bänder mit der vergleichsweise schlechten Bild- und Tonqualität durch die silbernen Scheiben verdrängt. Aber trotzdem hielt Ingrid Thüne bis zum Schluss auch an der veralteten Technik fest; zumindest zeitweise hatte sie sowohl VHS als auch DVD im Angebot.

Die moderne Technik und die neuen Medien waren auch das erste Anzeichen für den schleichenden Niedergang der Videotheken. „Die DVD lief ein paar Jahre nach der Einführung noch ganz gut, aber dann wurde die Nachfrage immer geringer“, erinnert sich Thüne wehmütig. Was sind die Gründe hierfür? Einen großen Anteil hatte sicherlich das aufkommende Internet mit seiner schnellen und bequemen Verfügbarkeit von Filmen aller Art. Aber auch den Unterschied im Freizeitverhalten zwischen Dorf und Stadt sieht sie als Ursache: „Wenn man in einer Stadt in einer Wohnung lebt und vielleicht sogar arbeitslos ist, dann hat man einfach mehr Zeit. Auf dem Dorf ist das doch nochmal anders. Da hat jeder sein Haus und auch so genug zu tun“. Zudem seien auch viele aus der jüngeren Generation weggezogen. In diesem Punkt hat sie natürlich recht, ich kann hier aus eigener Erfahrung sprechen. Es tut mir ein wenig leid, dass ich selbst zumindest einen kleinen Teil zu dieser Entwicklung beigetragen habe.

Anfangs versuchte man noch, mit einer Reduzierung der Öffnungszeiten auf diesen Rückgang der Nachfrage zu reagieren. Aber auch dies half nicht allzu lange. Und so war dann am 31. März 2010 nach fast 20 Jahren der letzte Tag für „Super Video“ gekommen. Die verbliebenen Filme wurden in einem Ausverkauf unter die Leute gebracht, die letzten SEGA-Spiele vor einigen Jahren bei eBay veräußert. Heute erinnert nur noch der Rahmen eines Schildes vor Thünes Haus an den ehemaligen Standort. „Manchmal kommen auch noch Anrufe, weil meine Nummer in Verbindung mit dem Stichwort Videothek noch im Internet erscheint. Ich muss das irgendwann einmal löschen lassen“, erzählt die ehemalige Inhaberin.

Gab es in dieser langen Zeit eigentlich einen Renner, einen Film der immer und immer wieder ausgeliehen wurde? „Ja, vor allem die FSK-18-Filme wie „Gesichter des Todes“ waren sehr beliebt. Der wurde dann aber irgendwann mal verboten so dass wir ihn aus dem Sortiment nehmen mussten. Und natürlich die Pornofilme. Die waren lange Zeit unser Hauptumsatzbringer“, schmunzelt Thüne.

 

Im Nachhinein betrachtet war es eine schöne Zeit, an die sich Ingrid Thüne gern zurück erinnert. Dass es heute in manchen Städten noch einige wenige Videotheken gibt, die sich tapfer gehalten haben, findet sie gut. Obwohl sie nicht glaubt, dass man damit noch Geld verdienen kann: „Es ist wohl mehr so ein Nostalgie-Ding!“ 


Hinweis: Dieser Text erschien in einer wesentlich kürzeren Fassung erstmals am 19.04.2018 auf Retrokram.